Immer wieder begegnen mir in meiner psychologischen Praxis junge Männer, die – trotz Ausbildung, Beruf oder Lebensplänen – noch zu Hause bei ihrer Mutter leben. Oft weit über das hinaus, was gesellschaftlich als „normal“ gilt. Und oft nicht, weil sie es so wollen – sondern weil sie nicht wirklich frei sind.

Das Phänomen der späten oder verhinderten Ablösung betrifft nicht nur die Söhne. Es ist ein stilles Beziehungsmuster, das tief in die Familienstruktur eingreift – und besonders häufig im Verhältnis zwischen Mutter und Sohn auftaucht.

 

Zwischen Nähe und Abhängigkeit – Wenn Mutterliebe verstrickt

Die Beziehung zwischen Mutter und Sohn ist in vielen Familien sehr eng – manchmal so eng, dass der natürliche Prozess der Ablösung ins Stocken gerät. Was ursprünglich aus Fürsorge entsteht, kann mit der Zeit zur unbewussten Fessel werden.

Viele Mütter investieren über Jahre hinweg emotional, organisatorisch und oft auch wirtschaftlich alles in ihr Kind. Wird der Sohn dann älter, fällt es schwer, loszulassen. Nicht selten verschieben sich dabei unbemerkt die Rollen: Der Sohn wird zum emotionalen Partnerersatz, zur ständigen Bezugsperson, zur Sinnquelle.

 

Warum Mütter festhalten – und das oft nicht merken

In der psychologischen Arbeit zeigt sich immer wieder: Viele Mütter handeln aus einem inneren Mangel heraus, der oft in ihrer eigenen Biografie wurzelt.

  • Emotionale Vernachlässigung in der eigenen Kindheit
  • Früh übernommene Verantwortung für andere
  • Unerfüllte Partnerschaft oder Einsamkeit 

Diese Frauen sehnen sich nach Nähe und Verbindung – etwas, das sie selbst vielleicht nie sicher erlebt haben. Der Sohn wird zur Projektionsfläche dieser ungestillten Bedürfnisse. Das geschieht selten bewusst, aber es hat Folgen.

 

Die unsichtbare Last des Sohnes

Für den jungen Mann ist das Leben in dieser Konstellation oft widersprüchlich. Nach außen wirkt alles stabil: ein Zuhause, Versorgung, Nähe. Doch innerlich wächst ein Gefühl der Enge, das schwer zu benennen ist. Typische Symptome und Schwierigkeiten:

  • Schuldgefühle beim Gedanken an Unabhängigkeit
  • Angst, die Mutter im Stich zu lassen
  • Unsicherheit in Beziehungen zu Frauen
  • Identitätsprobleme („Wer bin ich – außerhalb dieser Beziehung?“)
  • Schwierigkeiten, Verantwortung im eigenen Leben zu übernehmen 

Es ist ein innerer Zwiespalt zwischen Loyalität und dem Wunsch nach Freiheit.

 

Emotionale Verstrickung – keine böse Absicht, aber großer Einfluss

Es ist wichtig, an dieser Stelle etwas klar zustellen: Die meisten dieser Mütter handeln nicht aus böser Absicht. Sie lieben ihren Sohn – nur auf eine Weise, die unbewusst eigene Wunden reproduziert.

Was sie für Fürsorge halten, ist manchmal emotionale Kontrolle. Was sie für Nähe halten, ist manchmal Abhängigkeit. Und was sie für Liebe halten, ist manchmal Angst vor dem Alleinsein.

Diese Muster sind menschlich – und sie verdienen Mitgefühl. Aber sie dürfen nicht unreflektiert bleiben. Denn sie hindern den Sohn daran, sich als erwachsener, selbstständiger Mann zu entwickeln.

 

Wege in die Eigenständigkeit

Der Ablösungsprozess ist selten leicht – für keinen der Beteiligten. Aber er ist notwendig. In meiner Arbeit mit jungen Männern zeigt sich immer wieder:

  • Es braucht das Erkennen des Musters
  • Es braucht die Erlaubnis, sich schrittweise abzugrenzen
  • Und es braucht oft auch ein ehrliches Gespräch mit der Mutter 

Manchmal ist auch die Mutter bereit, hinzuschauen. Manchmal nicht. In beiden Fällen gilt: Der Sohn darf sich lösen. Nicht aus Ablehnung – sondern aus Liebe zu sich selbst.

Liebe Leserinnen und Leser,

vielleicht ist es an der Zeit, Mutterschaft nicht nur über Aufopferung zu definieren – sondern auch über das Loslassen. Eine gute Mutter ist nicht die, die ihren Sohn festhält, sondern die, die ihm vertraut, dass er seinen Weg gehen kann.

Und ein starker Sohn ist nicht der, der bleibt, um andere zu retten – sondern der, der den Mut hat, sich abzugrenzen, Verantwortung zu übernehmen und eigene Beziehungen aufzubauen.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor