Wir leben in einer Welt der Extreme. Entweder sind Sie euphorisch oder verzweifelt, gehetzt oder gelähmt, überambitioniert oder völlig antriebslos. Die Mitte – jener kraftvolle Ort der Ruhe zwischen allen Polen – scheint für die meisten Menschen zu einem fremden Land geworden zu sein.

Doch was bedeutet es überhaupt, sich in seiner Mitte zu befinden? Es ist nicht die Abwesenheit von Emotionen oder Herausforderungen. Es ist vielmehr die Fähigkeit, inmitten des Sturms einen ruhigen Anker in sich selbst zu finden. Ein Zustand, in dem Sie weder von äußeren Umständen noch von inneren Turbulenzen vollständig mitgerissen werden.

 

Warum wir unsere Mitte verlieren

Die moderne Gesellschaft konditioniert uns darauf, in Extremen zu leben. Erfolg wird mit Perfektion gleichgesetzt, Glück mit ständiger Stimulation, Produktivität mit pausenloser Aktivität. Sie haben verlernt, dass wahre Stärke oft in der Stille liegt und echte Weisheit im bewussten Nichtstun entstehen kann.

Bereits in der Kindheit lernen Sie, dass Ihre Aufmerksamkeit nach außen gerichtet sein sollte. Sie werden bewertet, verglichen, optimiert. Der natürliche Impuls, nach innen zu schauen und die eigene Mitte zu erspüren, wird systematisch überschrieben durch die Notwendigkeit, zu funktionieren und zu performen.

Diese ständige Außenorientierung führt dazu, dass Sie den Kontakt zu Ihrem inneren Kompass verlieren. Sie beginnen zu glauben, dass Ihr Wert von äußeren Errungenschaften abhängt, dass Ruhe Schwäche bedeutet und dass Sie ständig „mehr“ brauchen, um vollständig zu sein.

 

Die Illusion der Balance

Viele Menschen verwechseln Balance mit ihrer wahren Mitte. Sie versuchen, alle Lebensbereiche perfekt auszubalancieren – Karriere, Familie, Gesundheit, Hobbys – als wäre das Leben eine Waage, die es auszutarieren gilt. Doch diese Art der Balance ist erschöpfend und künstlich.

Wahre Mitte ist nicht statisch. Sie ist ein lebendiger, atmender Zustand des Seins, der sich flexibel an die Gegebenheiten des Moments anpasst. Manchmal bedeutet es, sich vollständig einer Sache zu widmen. Manchmal bedeutet es, bewusst loszulassen. Immer aber bedeutet es, aus einem Ort der inneren Klarheit heraus zu handeln.

 

Der Weg zur inneren Mitte

Die Kunst des bewussten Innehaltens

Der erste Schritt zurück zur Mitte ist das bewusste Innehalten. Nicht als Flucht vor der Realität, sondern als liebevolle Rückkehr zu sich selbst. Es geht darum, regelmäßige Momente der Stille zu kultivieren, in denen Sie einfach da sind, ohne etwas erreichen oder verändern zu müssen.

Diese Praxis erfordert Mut, denn in der Stille begegnen Sie allem, was Sie normalerweise durch Aktivität übertönen. Ängste, Unsicherheiten, unterdrückte Gefühle – sie alle warten geduldig auf Ihre Aufmerksamkeit. Doch nur durch diese bewusste Begegnung können Sie lernen, nicht mehr von ihnen regiert zu werden.

Mitgefühl als Kompass

Auf dem Weg zur Mitte begegnen wir unweigerlich unseren Schatten – jenen Aspekten unserer Persönlichkeit, die wir lieber verleugnen würden. Hier ist Mitgefühl entscheidend. Nicht die oberflächliche Selbstliebe, die nur die angenehmen Seiten umarmt, sondern das tiefe Mitgefühl, das auch unsere Unperfektion mit Güte betrachtet.

Wenn wir lernen, unsere eigenen Kämpfe und Widersprüche mit derselben Güte zu betrachten, mit der wir einem guten Freund begegnen würden, entsteht Raum für echte Transformation. Wir müssen nicht mehr perfekt sein, um wertvoll zu sein.

Die Praxis des Nicht-Wissens

In unserer wissensorientierten Gesellschaft ist es radikal zu akzeptieren, dass wir nicht alles wissen müssen. Die Mitte ist ein Ort des Nicht-Wissens, des offenen Erkundens, des Vertrauens in das Unbekannte.

Diese Haltung befreit uns von dem erschöpfenden Bedürfnis, ständig Antworten zu haben, Kontrolle auszuüben oder die Zukunft vorherzusagen. Stattdessen können wir lernen, im Nicht-Wissen zu ruhen und dem Leben zu vertrauen, dass es sich auf seine eigene Weise entfaltet.

 

Leben aus der Mitte heraus

Menschen, die ihre Mitte gefunden haben, sind nicht frei von Herausforderungen oder schwierigen Emotionen. Sie haben gelernt, diese als Teil des menschlichen Erfahrungsspektrums zu akzeptieren, ohne sich von ihnen definieren zu lassen.

Sie können traurig sein, ohne in Verzweiflung zu versinken. Sie können wütend sein, ohne destruktiv zu werden. Sie können Freude empfinden, ohne sich daran zu klammern. Ihre Reaktionen entstehen aus einem Ort der Bewusstheit heraus, nicht aus unbewussten Mustern der Konditionierung.

Diese innere Stabilität macht sie zu einem Geschenk für ihre Umgebung. Sie müssen andere nicht verändern, um sich selbst besser zu fühlen. Sie können präsent sein, ohne zu urteilen. Sie können lieben, ohne zu besitzen.

 

Die Einladung zur Rückkehr

Die Rückkehr zur eigenen Mitte ist keine einmalige Leistung, sondern eine täglich neue Entscheidung. Es ist die Entscheidung, dem Lärm der Welt nicht zu erlauben, die Stimme der eigenen Weisheit zu übertönen. Es ist die Bereitschaft, immer wieder neu zu beginnen, sich selbst zu begegnen und das Leben mit offenem Herzen zu empfangen.

Vielleicht ist der Grund, warum so wenige Menschen ihre Mitte finden, dass wir vergessen haben, dass sie bereits in uns vorhanden ist. Wir müssen sie nicht erschaffen oder erobern. Wir müssen nur bereit sein, nach Hause zu kommen – zu uns selbst.

Liebe Leserinnen und Leser,

in meiner psychologischen Online-Praxis begleite ich Menschen dabei, ihre eigene Mitte wiederzuentdecken. Nicht durch schnelle Lösungen oder oberflächliche Techniken, sondern durch die sanfte Kunst des bewussten Hinschauens. Durch die Kultivierung einer liebevollen Beziehung zu sich selbst.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor