Was geschieht in uns, wenn wir das Wort „Gott“ aussprechen? In diesem Moment berühren sich zwei Welten: die innere Landschaft unserer Psyche und das Unermessliche, das unsere Vorstellungskraft übersteigt. Es ist eine Begegnung, die sowohl zutiefst persönlich als auch universell menschlich ist.

 

Das Göttliche als Spiegel der Seele

In der Tiefenpsychologie verstehen wir, dass unsere Gottesbilder oft Projektionen unserer unbewussten Sehnsüchte, Ängste und unerfüllten Bedürfnisse sind. Das Kind, das sich nach bedingungsloser Liebe sehnt, projiziert diese Sehnsucht auf einen liebenden Himmelsvater. Der Mensch, der sich verloren fühlt, sucht einen Gott der Führung und Richtung.

Doch diese psychologische Erkenntnis schmälert nicht die Wahrheit der spirituellen Erfahrung. Sie lädt uns vielmehr ein, tiefer zu schauen: Was offenbart sich in unseren Gottesbildern über unsere eigene Natur? Welche Aspekte unseres Wesens rufen nach Heilung, nach Ganzheit?

 

Die Paradoxie des Suchens

Östliche Weisheitslehren sprechen von einem wunderschönen Paradoxon: Je mehr wir Gott suchen, desto mehr entfernen wir uns von dem, was bereits da ist. Das Göttliche ist nicht etwas, das wir erreichen müssen, sondern etwas, das wir erkennen dürfen – in uns, um uns, als das, was wir in unserem tiefsten Kern bereits sind.

Diese Erkenntnis lädt zu einer radikalen Umkehr der Suchbewegung ein. Statt nach außen zu greifen, kehren wir nach innen. Statt zu erobern, lernen wir zu lauschen. Statt zu besitzen, üben wir uns im Loslassen.

 

Gott als Bewusstsein selbst

Was wenn das, was wir „Gott“ nennen, nichts anderes ist als das reine Gewahrsein, das diese Worte liest? Das Bewusstsein, das alle Erfahrungen trägt, aber selbst von keiner Erfahrung berührt wird?

In der Achtsamkeitspraxis entdecken wir diesen stillen Beobachter in uns – das, was alle Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen bezeugt, ohne selbst ein Gedanke, Gefühl oder eine Wahrnehmung zu sein. Könnte dies das sein, was die Mystiker aller Zeiten als das Göttliche erfahren haben?

 

Die Heilung der Trennung

Psychologisch betrachtet ist vieles menschliche Leiden das Ergebnis einer tief empfundenen Trennung – von uns selbst, von anderen, von dem Größeren. Wir fühlen uns isoliert in unseren Ego-Strukturen, gefangen in den Geschichten, die wir über uns selbst erzählen.

Die spirituelle Reife lädt uns ein, diese Trennung als Illusion zu erkennen. Nicht durch Verleugnung unserer Individualität, sondern durch die Erkenntnis, dass unsere Einzigartigkeit und unsere Verbundenheit zwei Seiten derselben Wahrheit sind.

 

Praktische Weisheit für den Alltag

Wie übersetzen wir diese tieferen Erkenntnisse in unser tägliches Leben?

Achtsamkeit als Gebet: Jeder bewusste Atemzug wird zu einer Form der Kommunikation mit dem Göttlichen. Das aufmerksame Lauschen auf den gegenwärtigen Moment wird zur höchsten Form der Hingabe.

Mitgefühl als Gottesdienst: In der bedingungslosen Annahme unserer eigenen Schatten und der liebevollen Begegnung mit anderen erfahren wir das Göttliche als lebendige Kraft.

Hingabe als Befreiung: Das Loslassen unserer starren Vorstellungen davon, wie das Leben sein sollte, öffnet uns für das Wunder dessen, was ist.

 

Die Integration von Psychologie und Spiritualität

Wahre spirituelle Reife bedeutet nicht, unsere psychologischen Wunden zu überspringen oder zu vergeistigen. Sie lädt uns vielmehr ein, unsere Verletzungen, unsere Ängste und unsere Sehnsüchte als Pforten zur Transzendenz zu verstehen.

Jede Neurose trägt in sich den Keim einer tieferen Weisheit. Jede Angst weist auf eine Sehnsucht nach Sicherheit hin, die in der spirituellen Dimension ihre Erfüllung findet. Jede Wut spricht von einer Liebe, die sich nicht ausdrücken kann.

 

Der Weg ohne Ziel

Vielleicht ist die tiefste Erkenntnis über Gott diese: Es gibt keinen Ort zu erreichen, keinen Zustand zu erlangen, keine Perfektion zu erzielen. Es gibt nur das ewige Jetzt, das sich in unendlicher Kreativität entfaltet.

In diesem Erkennen liegt eine tiefe Befreiung. Wir müssen nicht spirituell perfekt werden. Wir müssen nicht alle unsere psychologischen Muster auflösen. Wir dürfen einfach sein – mit all unseren Widersprüchen, mit all unserer Menschlichkeit.

Das Göttliche offenbart sich nicht trotz unserer Unperfektion, sondern durch sie hindurch. In unserer Verwundbarkeit, in unserer Suche, in unserem Nicht-Wissen berühren wir das Mysterium des Lebens selbst.

 

Die Einladung

Am Ende ist die Auseinandersetzung mit Gott eine Einladung zur radikalen Ehrlichkeit mit uns selbst. Es ist die Bereitschaft, alle unsere Konzepte, alle unsere Sicherheiten loszulassen und dem Leben mit dem Staunen eines Kindes zu begegnen.

In dieser Offenheit, in diesem Nicht-Wissen, in dieser bedingungslosen Präsenz erfahren wir vielleicht das größte Mysterium: dass das, was wir immer gesucht haben, niemals verloren war. Es war immer hier, in der Stille zwischen den Gedanken, im Raum zwischen den Atemzügen, in der Liebe, die keine Ursache braucht.

Liebe Leserinnen und Leser,

die Reise zu Gott ist letztendlich die Reise zu uns selbst – nicht zu dem kleinen Selbst, das sich sorgt und plant und urteilt, sondern zu dem grenzenlosen Selbst, das alle Erfahrung trägt und durchdringt.

In diesem Erkennen liegt nicht das Ende der Suche, sondern ihr wahrhaftiger Beginn.

Rainer Schwenkkraus

Berater und Autor