Ich weiß genau, wer ich bin! – ein Satz, den ich in meiner psychologischen Beratungspraxis häufig höre. Meist folgt dann eine beeindruckende Aufzählung: „Ich bin Perfektionist, introvertiert, jemand der immer hilft, eine starke Persönlichkeit…“ Je länger die Liste wird, desto amüsierter werde ich innerlich. Nicht aus Schadenfreude, sondern weil ich weiß: Wir befinden uns gerade mitten in der faszinierendsten Entdeckungsreise überhaupt – der Erkenntnis, dass wir möglicherweise gar nicht sind, wofür wir uns halten.
In meinen Beratungen erlebe ich täglich kleine Wunder der Selbsterkenntnis. Menschen kommen mit festen Überzeugungen über sich selbst und gehen mit einem völlig neuen Verständnis ihrer wahren Natur. Es ist, als würden sie lernen, dass das, was sie für ihr ganzes Haus hielten, nur das Vorzimmer war.
Wer sind Sie wirklich? Diese Frage mag einfach erscheinen, doch wenn wir gemeinsam innehalten und mit liebevoller Neugier hinschauen, entdecken wir eine verblüffende Wahrheit: Das Bild, das wir von uns selbst haben, ist oft nur eine kunstvolle Sammlung von Geschichten, die wir uns über die Jahre erzählt haben – und die wir manchmal so überzeugend vortragen, dass wir selbst daran glauben.
Die Masken, die wir tragen
Jeden Tag schlüpfen wir in verschiedene Rollen – der erfolgreiche Berufstätige, der fürsorgliche Elternteil, der verlässliche Freund. Diese Rollen sind nicht falsch, doch sie sind auch nicht die Vollständigkeit dessen, wer wir sind. Sie sind wie Kleider, die wir je nach Situation wechseln, ohne zu bemerken, dass wir uns manchmal vollständig mit ihnen identifizieren.
Wenn wir glauben, „Ich bin jemand, der immer stark sein muss“ oder „Ich bin eine Person, die niemals versagt“, erschaffen wir unsichtbare Gefängnisse. Diese Überzeugungen, oft in der Kindheit geformt, werden zu stillen Richtern, die unser Handeln und unsere Wahrnehmung lenken.
Jenseits der inneren Stimme
Beobachten Sie einmal für einen Moment die Gedanken, die durch Ihren Geist wandern. Da ist eine Stimme, die kommentiert, bewertet, plant und sich sorgt. Doch wer ist derjenige, der diese Stimme hört? Wer nimmt die Gedanken wahr, ohne von ihnen verschlungen zu werden?
Diese Erkenntnis ist der Beginn einer tieferen Selbstentdeckung. Sie sind nicht die Summe Ihrer Gedanken, nicht die Ansammlung Ihrer Erfolge oder Misserfolge, nicht einmal die Geschichte Ihrer Vergangenheit. Sie sind das bewusste Gewahrsein, das all dies beobachtet.
Die Kunst des bewussten Loslassens
Wahre Befreiung entsteht nicht durch das Hinzufügen von mehr Wissen oder besseren Strategien, sondern durch das sanfte Loslassen dessen, was nie wirklich zu uns gehört hat. Jede festgehaltene Identität, jede starre Überzeugung über uns selbst ist wie ein Vogel im Käfig – scheinbar sicher, doch unfähig zu fliegen.
Dieser Prozess des Loslassens geschieht nicht durch Gewalt oder Selbstkritik, sondern durch liebevolle Aufmerksamkeit. Wenn wir bemerken, wie wir uns in einer bestimmten Rolle verlieren, können wir innehalten und uns daran erinnern: „Dies ist nur ein Teil meiner Erfahrung, nicht meine ganze Wahrheit.“
Der Raum zwischen den Geschichten
In der Stille zwischen unseren Gedanken, in dem Moment zwischen Einatmen und Ausatmen, zwischen einer Erfahrung und der nächsten – dort offenbart sich unser wahres Wesen. Es ist nicht leer, sondern voller Möglichkeiten. Es ist nicht definiert, sondern endlos kreativ.
Diesen Raum zu berühren bedeutet nicht, dass wir aufhören, im Leben zu funktionieren oder unsere Verantwortungen zu vergessen. Vielmehr handeln wir von einem Ort der Freiheit aus, nicht der Zwanghaftigkeit. Wir spielen unsere Rollen mit Hingabe, doch ohne zu vergessen, dass wir mehr sind als jede einzelne Rolle.
Ein Weg der sanften Revolution
Die Erkenntnis, dass Sie nicht das sind, wofür Sie sich halten, ist keine Bedrohung für Ihr Leben – sie ist eine Einladung zu wahrer Authentizität. Anstatt zu versuchen, jemand Bestimmtes zu sein, können Sie einfach präsent sein. Anstatt Ihre Identität zu verteidigen, können Sie sie wie einen leichten Mantel tragen, bereit, ihn zu wechseln, wenn die Situation es erfordert.
Diese innere Freiheit ist der Beginn eines Lebens, das nicht mehr von Angst vor dem Versagen oder dem verzweifelten Bedürfnis nach Bestätigung geleitet wird. Es ist ein Leben, das aus der stillen Gewissheit heraus gelebt wird, dass Sie, unabhängig von den äußeren Umständen, bereits vollständig sind.
Die Einladung des gegenwärtigen Moments
Vielleicht ist der wichtigste Schritt, den Sie heute gehen können, einfach innezuhalten. Atmen Sie bewusst und fragen Sie sich nicht „Wer bin ich?“, sondern „Was nehme ich in diesem Moment wahr?“
In dieser einfachen Praxis der Achtsamkeit lösen sich die Schichten falscher Identitäten natürlich auf, wie Nebel in der Morgensonne. Was zurückbleibt, ist nicht weniger, sondern unendlich viel mehr – die lebendige Präsenz Ihres wahren Wesens, das nie definiert werden kann und doch immer da ist.
Liebe Leserinnen und Leser,
Sie sind nicht das, wofür Sie sich halten. Sie sind das unbenennbare Bewusstsein, das all Ihre Gedanken, Gefühle und Erfahrungen umhüllt. Und in dieser Erkenntnis liegt eine Freiheit, die kein äußerer Umstand Ihnen nehmen kann.